Einleitung
Neuengland versetzt in Erstaunen.
Amerka-Neulinge ebenso wie Besucher, die andere Regionen der USA kennen. Endlose
öde Highways befahren haben, flankiert von schreienden Reklameschildern. Dörfer
kennen, die nur aus ein paar ebenerdigen Bauten und einem unpersönlichen Motel
bestehen. Oft tagelang unterwegs waren, um von einer Sehenswürdigkeit zur
nächsten zu kommen.
Und nun dies: eine lieblich
gepflegte, wohl geordnete, charmante, übersichtliche
Region. Die Dörfer wie frisch gewaschen, mit weißen
Kirchlein. Kleine Straßen, die sich durch Wiesen
winden. Wälder, tief und verzaubert, Berge, alpin
schroff oder mit sanften, runden Kuppen. Städte, die man
zu Fuß durchmessen kann. Strände mit feinem Sand und
wild zerklüftete Felsküsten, an denen sich die Brandung
bricht. Und überall Zeugen aus mehreren Jahrhunderten,
Museen mit exzellenten Sammlungen, dicht an dicht und
jedes so spannend, daß man nicht weiß wo man beginnen
soll.
„Small is beautiful“.
Neuengland ist beides, klein und schön. Wobei „klein“
mit der gebotenen Relativität gesehen werden muß, denn
mit 172.514 qkm ist es etwa halb so groß wie
Deutschland. Ganz so winzig ist das Gebiet also doch
nicht. Für amerikanische Verhältnisse jedoch ist diese
Größe ein Klacks: Connecticut, Rhode Island,
Massachusetts, Vermont, New Hampshire und Maine bedecken
gerade mal ein Vierundfünfzigstel des Territoriums der
USA. Rhode Island ist der kleinste Staat der Union.-
Geschichte
Neuengland beeindruckt nicht durch Weite und
Monumentalität, wie so viele andere Regionen der USA,
sondern durch landschaftliche Vielfalt und kulturelle
Highlights. Das „Neue England“ wurde seit 1620 besiedelt
und ist damit fast so alt wie die Neue Welt – die der
Weißen, wohlgemerkt. Von derjenigen der Ureinwohner
blieb nichts erhalten, die meisten von ihnen wurden
schon während der Kolonialzeit ausgerottet; wer
überlebte, assimilierte sich und ging im „mainstream
America“ auf. Neuengland ist also europäisch geprägt,
genauer gesagt nordeuropäisch. Es ist eine Enklave der
Alten Welt in der Neuen, in der sich ablesen läßt, wie
sich auf der anderen Seite des Atlantik im Lauf der
Jahrhunderte eine eigenständige, vom Mutterland England
unabhängige Kultur entwickelte.
Die ersten Europäer, die
sich an der Küste von Massachusetts niederließen,
wollten eigentlich nach North Virginia, das damals bis
zur Mündung des Hudson reichte. Ein Navigationsfehler
trieb die „Mayflower“ nach Norden und so landeten die
102 Männer, Frauen und Kinder im November 1620 an der
Küste von Cape Cod. Zum Überwintern schien die Halbinsel
nicht geeignet, so machte man sich auf die suche nach
einem besseren Ort und entdeckte ein Stück Land, das
schon gerodet, aber verlassen war. Gerade recht, um eine
kleine Siedlung zu errichten: Plimouth.
Mit viel Glück und
tatkräftiger Unterstützung der Indianer überlebte der
Großteil der Siedler den ersten Winter in der Neuen
Welt. Der Stamm, dem das gerodete Land gehörte, war
durch eine Seuche stark dezimiert worden und nicht zu
kriegerischen Handlungen aufgelegt. Unter den wenigen
Überlebenden befanden sich sogar zwei, die Englisch
konnten. Einer sogar recht gut, denn er hatte sich 1605
freiwillig auf ein Schiff begeben, das ihn nach London
brachte, wo er neun Jahre lang als Jahrmarktsattraktion
herumgereicht worden war. Von ihm lernten die Pilger,
wie sie sich in dem neuen Land ernähren konnten und ihm
war es auch zu verdanken, daß ein Vertrag zwischen den
Weißen und dem Häuptling Massasoit zustande kam, der
immerhin rund 50 Jahre friedliches Zusammenleben
ermöglichte. Nicht überall herrschte eine derartige
Harmonie zwischen den Landbesitzern und denen, die es
in Besitz zu nehmen gedachten. In den Jahrzehnten nach
1620 strömten immer mehr Europäer nach Massachusetts,
gründeten Siedlungen
und neue Kolonien, wenn sie fruchtbares Land entdeckt
hatten. So entstanden Rhode Island und Connecticut. Und
vor allem dort ging man mit besonderer Brutalität gegen
die Pequot vor, die 1936/1937 nahezu vollständig
ausgerottet wurden.
Die ersten 140 Jahre
neuenglischer Geschichte sind auch geprägt von
kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den Weißen.
Nicht nur England, auch Holland und Frankreich erhoben
Anspruch auf das Gebiet. Erst 1763, als der „French and
Indian War“ zu Ende ging, beruhigte sich die Situation
und der bis dato unsichere Westen der Region wurde
besiedelt.
Die Siedler, die mit der „Mayflower“
kamen, waren
Puritaner, Angehörige der reformierten Kirche, die sich
im wesentlichen an der Lehre Calvins orientierten. Zu
ihren Glaubensgrundsätzen gehörten Prädestination,
harte Arbeit, Disziplin und Selbstverleugnung.. Da sie
zudem Autorität, sei es bischöfliche oder königliche
ablehnten, hatten sie sich in ihrer Heimat England keine
Freunde gemacht und mußten fliehen. Nun könnte man
glauben, daß jemand, der selbst religiösen Verfolgungen
ausgesetzt war, Toleranz walten läßt, aber das gehörte
nicht zum Konzept der Puritaner. Sie wollten in
Neuengland einen Gottesstaat errichten, und Kinder
Gottes, die ihrer Meinung nach vom rechten Glauben
abwichen, wurden entweder aus Massachusetts vertrieben
oder gleich an den Galgen geknüpft.
Das Leben der gestrengen
Puritaner war mehr als freudlos, und Salem 30 km
nordöstlich von Boston gelegen, war eine besonders
rigide Gemeinde. Eine Kindheit in dieser Umgebung muß
die wahre Hölle gewesen sein. Schon die Kleinsten wurden
mit Sünden, Tod und Verdammnis konfrontiert, im
Elternhaus wie in den stundenlangen sonntäglichen
Predigten. Und so verwundert es nicht, daß es Kinder
waren, die die Hexenverfolgung in Salem im Jahr 1692
auslösten. Mädchen zwischen acht und 17 Jahren, die sich
„seltsam“ benahmen, in der Kirche lachten oder krank
wurden, ohne daß der Arzt eine Ursache finden konnte.
Dafür gab es nur eine Erklärung: Der Teufel mußte seine
Hand im Spiel haben. Die Kinder waren verhext und die
Erwachsenen stürzten sich darauf, die Hexen an den
Pranger zu stellen. Schließlich hatten sie ja ihren
Vorteil davon: Unter dem Vorwand der Anklage konnte man
auch seinen unliebsamen Nachbarn loswerden und damit
alte Streitigkeiten um des Nächsten Hab und Gut oder
Weib beenden. So nahm die Sache ihren Lauf und Salem
verwandelte sich in einen Hexenkessel, in dem Hysterie
und Bösartigkeit brodelten. 400 Menschen wurden
angeklagt, 150 wanderten in den Kerker. Erst als die
Sache so eskaliert war, daß selbst die Jäger zu Gejagten
wurden, griff der Gouverneur 1693 ein und verbot das
grausige Spiel. Für 19 Menschen kam dies zu spät. Sie
waren bereits „am Halse aufgehängt“ worden, „bis sie tot
waren“. Im Salem Witch Museum sind die Geschehnisse des
Jahres 1692 beeindruckend aufgearbeitet. Literarisch tat
die Arthur Miller 1953 in seinem Drama „Hexenjagd“.
Natürlich waren sich auch
die Puritaner nicht immer einigt über die Auslegung der
Bibel und den rechten Weg zur Seligkeit, und so kam es
schon im 17. Jh. zu Auseinandersetzungen, die dazu
führten, daß Abweichler sich von Massachusetts absetzten
und die Nachbarkolonien besiedelten. Auf diese Weise
entstand zum Beispiel Rhode Island, das immer als
besonders tolerant bekannt war und auch Juden und Quäker
aufnahm. Insgesamt aber blieb Neuengland homogen und
geprägt von den positiven Maximen der Puritaner, den
Tugenden, die man brauchte in einem Gebiet, von dessen
landwirtschaftlichen Erträgen man nicht leben kann:
Erfindungsgeist, Bildung und ausgeprägter
unternehmerischer Mut.
Mark Twain, der 17 Jahre in
Connecticut lebt, beschrieb dessen Bewohner als
„Yankees“, womit er ihnen Fleiß, Strebsamkeit, einen
starken Realitätssinn und Einfallsreichtum zusprach.
Tatsächlich ist die Liste der Erfindungen, die aus
Neuengland kommen, beachtlich. In Rhode Island begann
die industrielle Revolution, 1793 nahm hier die erste
mit Wasserkraft angetriebene Spinnerei den Betrieb auf.
In Connecticut wurden der Colt und die Winchester
erfunden. Bereits 1639 wurde in Cambridge die erste
amerikanische Druckerei aufgebaut.
Trotz des harten
Überlebenskampfes stand Bildung von Anfang an hoch im
Kurs bei den Puritanern. Der Fortbestand der Theokratie
erforderte eine gebildete Schicht und so wurde schon im
Jahr 1636 ein College gegründet: Harvard. 1701 entstand
die zweite Universität, bis heute mit Harvard im
Wettstreit und ebenfalls eine Elite-Institution: Yale in
New Haven/Connecticut..
An der See:
Leuchttürme, Kapitänsvillen und Museen
Fünf der sechs
Neuenglandstaaten haben Zugang zum Meer- nur Vermont
blieb außen vor. Die See spielte in den ersten 200
Jahren der Geschichte der Region eine herausragende
Rolle. Fischerei, Handel, Walfang, Schiffbau – auf
diesen Säulen ruht Neuenglands Reichtum.
Das wirtschaftliche
Schicksal Neuenglands stand schon bald nach der
europäischen Besiedlung fest und war im wahrsten Sinne
des Wortes „naturgegeben“. Wälder, Steine karge Böden,
keine Bodenschätze. Nichts, was Großbritannien
interessierte und wofür es Waren geliefert hätte, die
zum Aufbau der Kolonien so dringend benötigt wurden.
Also wandte man sich notgedrungen der See zu: dort gab
es Kabeljau zuhauf, doch auch der fand in England keinen
Absatz. Das hieß, die Neuengländer mußten Märkte suchen,
wo sie mit getrocknetem Fisch willkommen waren, und
damit war ihr Schicksal als Seefahrer, Händler und
Kaufleute besiegelt. Man fuhr nach Spanien, Portugal und
zu den Westindischen Inseln, die sich sehr bald als
ideales Ziel erwiesen. Gab es dort doch Melasse, ein
Nebenprodukt der Zuckerrohrverarbeitung, das man zur
Herstellung von Rum braucht.
Mit dem Rum begann der
Aufschwung. Überall an der neuenglischen Küste schossen
die Destillerien aus dem Boden, Schiffe brachten das
hochprozentige Getränk nach England und nach Afrika.
Dort wurde mit Sklaven bezahlt, die man in die Karibik
brachte und gegen Melasse eintauschte. Dieser
florierende Dreieckshandel legt den Grundstock zum
Reichtum so mancher Familie und kurbelte natürlich auch
den Schiffbau und die damit verbundenen Industrien an.
Nach der Unabhängigkeit engagierten sich die Kaufleute
im Asienhandel und ab 1820 begann die große Zeit der
Walfangindustrie, in der den Männern aus Nantucket „zwei
Drittel des Erdballs gehörten“, wie Hermann Melville in
„Moby Dick“ schrieb. Das goldene Zeitalter des
maritimen Neuengland fand durch den Sezessionskrieg
(1861 – 1865), bei dem die neuenglische Flotte stark
dezimiert wurde, ein abruptes Ende. Als dann das
Zeitalter der Kampfschiffahrt begann, hatte Neuengland
seine Rolle ausgespielt.
Was blieb nun von der Zeit,
in der Neuengland die Weltmeere beherrschte und Zentrum
der amerikanischen Schiffbauindustrie war? Zunächst
einmal liebevoll restaurierte Küstenstädtchen mit
prachtvollen Kapitänsvillen. In vielen kann man übrigens
absteigen: Sie wurden in Bed- and Breakfast-Pensionen
umgewandelt. Dann Museen, in Mystik, New Bedford, Bath
(nordöstlich) und auf der Insel Nantucket. Und
schließlich Leuchttürme. Die beeindruckendsten findet
man in Maine, dort steht auch Pemaquid Point Lighthouse,
zweifellos der schönste. Er thront auf einer
Felsformation, über Jahrtausende von der Eiszeit und vor
Meer geformt – Fotografen brauche hier viel Zeit.
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